Ian Lisiecki,
Klavierkonzert im Großen Saal der Alten Oper Frankfurt, 15.01.2018, eine Veranstaltung von PRO ARTE Frankfurt
Jan Lisiecki (Foto: PRO ARTE Frankfurter Konzertdirektion) |
Vom Zauberlehrling zum Magier an den Tasten
Vor fast einem Jahr (21.03.2017) debütierte der damals 21 jährige kanadische Ausnahmepianist, Ian Lisiecki, am gleichen Ort mit Chopins Klavierkonzert Nr. 1 op 11 (in Begleitung des Rotterdam Philharmonic Orchestra, Leitung Yannick Nézet Seguin) und eroberte durch sein jugendlich frisches und höchst virtuoses Spiel auf Anhieb das Frankfurter Publikum. Seine diesjährige Tournee durch Europa wagt er bereits als Solist. Mit außergewöhnlichen Werken von Robert Schumann, Frederic Chopin, Maurice Ravel und Sergei Rachmaninow, alle dem nächtlichen Spuk, den Dämonen der Nacht, dem Schattenreich der Fantasien entsprungen, präsentierte sich ein unglaublich gereifter, vom Zauberlehrling zum Meister gewandelter junger Pianist, der mit seiner 'transzendenten Virtuosität' (Maurice Ravel zu seinem Gaspard de la nuit) allerdings so gar keine bösen Nachtgedanken aufkommen ließ.
Blass, in
einem unauffälligen blauen Anzug, ohne Krawatte, groß und ein wenig schlaksig,
ein 22-jähriger halteben, eröffnete er den zweistündigen Abend mit Chopins Nocturnes op. 55 (1842-44), unaufgeregt,
mit ausladenden Rubati, langen Phrasen und interessanten dynamischen Wechseln.
Dann Schumanns
Nachtstücke op 23 (1839):
Ursprünglich als 'Leichenfantasie' unter dem Eindruck des frühen Todes seines
Bruders Eduard gedacht, ließ er sich vom gleichnamigen Erzählzyklus von E.T.A.
Hoffmann (1776-1822) inspirieren und berichtet in vier Charakterstücken über
einen Trauerzug, eine kuriose
Gesellschaft, ein nächtliches Gelage und resümiert abschließend über das Leben
schlechthin. Der Dichter spricht. Lisiecki verstand es hier bereits, mit variabler
Anschlagtechnik, einem hinreißend-akzentuierten Pianissimo, markanter Rhythmik
und einzigartigem Legatissimo eine tiefe
Innerlichkeit zu erzeugen. Im akkordisch simplen Abgesang des Stückes vermeinte
man gar E.T.A. Hofmanns Nachtstücke nicht nur gelesen, sondern auch
verstanden zu haben.
Grotesk
dagegen Ravels Gaspard de la nuit
(1909), nach drei romantischen Gedichten des französischen Dichters Aloysius
Bertrand (1807-1841). Es handelt von den Enthüllungen eines Schatzmeisters über
die Dämonen der Dunkelheit, ihre Hexereien und Visionen. Hier eine Wassernixe, die die Männer ins Verderben
zieht, da ein Galgen mit dem Leichnam eines Gehängten und dort ein Höllenzwerg,
der zwar kein Unheil anrichtet, dafür aber Angst und Schrecken verbreitet. Mit
einfacher Melodik auf schwebend, durchsichtig fahlen Sechszehnteln und
Zweiunddreißigsteln vollführte der Pianist ein verführerisches Spiel: einen
gestaltlosen Tanz, der unweigerlich in den abgründigen Sog zog. Die Leiche am Galgen schien noch zu leben. Ein
durchgängiger Herzschlag begleitete die gespenstische Szenerie. Kaum hörbar und
doch glasklar kreisten die Dezimen, Sextolen wie Blue Notes um das langsame
aber stetige Pochen. Eine musikalische Betrachtung mit minimalistischer Unendlichkeit.
Dann Scarbo, der listige Kobold. Hier bewies
Lisiecki sein fundiertes pianistisches Talent. Angeblich verlangt dieses vertrackte
Schlussstück 27 unterschiedliche Anschlagtechniken. Lisiecki schaffte eindeutig
mehr. Er übertrug Gewitztheit, Verschlagenheit, Frechheit, Hinterhältigkeit,
Gemeinheit und was auch immer auf sämtliche 88 Tasten, erzeugte Klangwolken aus
den tiefsten Tiefen bis zu ihrer explosiven Auflösung in den höchsten Höhen,
ähnlich dem Zwerg, der der Erzählung nach die Fähigkeit besitzt, vom Gnom bis
zum Riesen anzuwachsen. Ein Höllenritt der Gefühle von einem, der von sich
behauptet, im richtigen Leben ganz normal zu sein. Kaum zu glauben.
Rachmaninows
Fünf Fantasiestücke op. 3 (1892)
erinnern in vielerlei Hinsicht an Chopin oder auch an Schumann. Sind sie doch in
Form und melodischer Linie eng an den Nocturnes und den romantischen Fantasiestücken
beider Komponisten orientiert. Auffallend das Prélude (Nr. 2), das berühmteste. Die dreiteilige Form mit einem virtuosen
Mittelteil geriet unter den Händen des Pianisten zu einem aufrührerischen,
widerständigen Akt. Tänzerisch dagegen mit triolischer Begleitung die Mélodie (Nr. 3); die Polichinelle (Nr. 4) wiederum glich
einer hexenhaften Baba Jaga, wild umher tanzend und die Köpfe verdrehend, wogegen
die abschließend Serenade (Nr. 5), ein
Fandango im dreiviertel Takt, in die Wirklichkeit zurückführte – wenn auch nicht so
richtig.
Wenig Beifall
zulassend leitete Lisiecki das Finale mit dem Nocturne op. 72 Nr. 1 (1827) ein: sehr schnell, eher ein Wachmacher,
um dann übergangslos in das h-Moll
Scherzo Nr. 1 op. 20 (1831) überzuleiten. Chopin, ähnlich alt wie Lisiecki heute,
schrieb dieses furiose, gefühlsbetonte Stück unter den Eindrücken seiner Ankunft
in Paris, die Stadt, die er Zeit seines Lebens (mit kurzzeitigen Ausnahmen) nicht
mehr verlassen wird. Ein Stück zwischen Wahnsinn und Genie, zwischen
Himmel-hoch-jauchzend-und-zu-Tode-betrübt, eines, das keine Mitteltöne kennt.
Und so spielte es Lisiecki. Ein Klaviervirtuose mit eigener Stilinterpretation,
eine Gegenwelt der besonderen Art kreierend, ein 'Chopin' des 21. Jahrhunderts.
Bekanntlich scheute Chopin öffentliche Auftritte (bekannt sind lediglich drei),
Lisiecki scheint in dieses Raster nicht zu passen, noch nicht. Eine
pianistische Steigerung jedoch ist kaum noch vorstellbar.
Die Zugabe,
die Träumerei aus Schumanns Kinderszenen op. 15, bot einen dankbar
empfundenen Absacker nach einem im positiven Sinne musikalisch überbordenden
Klavierkonzert eines mittlerweile herangereiften Magiers an den Tasten.
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