Dienstag, 16. Januar 2018

Ian Lisiecki, Klavierkonzert im Großen Saal der Alten Oper Frankfurt, 15.01.2018, eine Veranstaltung von PRO ARTE Frankfurt
Jan Lisiecki (Foto: PRO ARTE Frankfurter Konzertdirektion)

Vom Zauberlehrling zum Magier an den Tasten

Vor fast einem Jahr (21.03.2017) debütierte der damals 21 jährige kanadische Ausnahmepianist, Ian Lisiecki, am gleichen Ort mit Chopins Klavierkonzert Nr. 1 op 11 (in Begleitung des Rotterdam Philharmonic Orchestra, Leitung Yannick Nézet Seguin) und eroberte durch sein jugendlich frisches und höchst virtuoses Spiel auf Anhieb das Frankfurter Publikum. Seine diesjährige Tournee durch Europa wagt er bereits als Solist. Mit außergewöhnlichen Werken von Robert Schumann, Frederic Chopin, Maurice Ravel und Sergei Rachmaninow, alle dem nächtlichen Spuk, den Dämonen der Nacht, dem Schattenreich der Fantasien entsprungen, präsentierte sich ein unglaublich gereifter, vom Zauberlehrling zum Meister gewandelter junger Pianist, der mit seiner 'transzendenten Virtuosität' (Maurice Ravel zu seinem Gaspard de la nuit) allerdings so gar keine  bösen Nachtgedanken aufkommen ließ.

Blass, in einem unauffälligen blauen Anzug, ohne Krawatte, groß und ein wenig schlaksig, ein 22-jähriger halteben, eröffnete er den zweistündigen Abend mit Chopins Nocturnes op. 55 (1842-44), unaufgeregt, mit ausladenden Rubati, langen Phrasen und interessanten dynamischen Wechseln.
Dann Schumanns Nachtstücke op 23 (1839): Ursprünglich als 'Leichenfantasie' unter dem Eindruck des frühen Todes seines Bruders Eduard gedacht, ließ er sich vom gleichnamigen Erzählzyklus von E.T.A. Hoffmann (1776-1822) inspirieren und berichtet in vier Charakterstücken über einen Trauerzug, eine kuriose Gesellschaft, ein nächtliches Gelage und resümiert abschließend über das Leben schlechthin. Der Dichter spricht. Lisiecki verstand es hier bereits, mit variabler Anschlagtechnik, einem hinreißend-akzentuierten Pianissimo, markanter Rhythmik und einzigartigem Legatissimo  eine tiefe Innerlichkeit zu erzeugen. Im akkordisch simplen Abgesang des Stückes vermeinte man gar E.T.A. Hofmanns  Nachtstücke nicht nur gelesen, sondern auch verstanden zu haben.

Grotesk dagegen Ravels Gaspard de la nuit (1909), nach drei romantischen Gedichten des französischen Dichters Aloysius Bertrand (1807-1841). Es handelt von den Enthüllungen eines Schatzmeisters über die Dämonen der Dunkelheit, ihre Hexereien und Visionen. Hier eine Wassernixe, die die Männer ins Verderben zieht, da ein Galgen mit dem Leichnam eines Gehängten und dort ein Höllenzwerg, der zwar kein Unheil anrichtet, dafür aber Angst und Schrecken verbreitet. Mit einfacher Melodik auf schwebend, durchsichtig fahlen Sechszehnteln und Zweiunddreißigsteln vollführte der Pianist ein verführerisches Spiel: einen gestaltlosen Tanz, der unweigerlich in den abgründigen Sog zog. Die Leiche am Galgen schien noch zu leben. Ein durchgängiger Herzschlag begleitete die gespenstische Szenerie. Kaum hörbar und doch glasklar kreisten die Dezimen, Sextolen wie Blue Notes um das langsame aber stetige Pochen. Eine musikalische Betrachtung mit minimalistischer Unendlichkeit. Dann Scarbo, der listige Kobold. Hier bewies Lisiecki sein fundiertes pianistisches Talent. Angeblich verlangt dieses vertrackte Schlussstück 27 unterschiedliche Anschlagtechniken. Lisiecki schaffte eindeutig mehr. Er übertrug Gewitztheit, Verschlagenheit, Frechheit, Hinterhältigkeit, Gemeinheit und was auch immer auf sämtliche 88 Tasten, erzeugte Klangwolken aus den tiefsten Tiefen bis zu ihrer explosiven Auflösung in den höchsten Höhen, ähnlich dem Zwerg, der der Erzählung nach die Fähigkeit besitzt, vom Gnom bis zum Riesen anzuwachsen. Ein Höllenritt der Gefühle von einem, der von sich behauptet, im richtigen Leben ganz normal zu sein. Kaum zu glauben.

Rachmaninows Fünf Fantasiestücke op. 3 (1892) erinnern in vielerlei Hinsicht an Chopin oder auch an Schumann. Sind sie doch in Form und melodischer Linie eng an den Nocturnes und den romantischen Fantasiestücken beider Komponisten orientiert. Auffallend das Prélude (Nr. 2), das berühmteste. Die dreiteilige Form mit einem virtuosen Mittelteil geriet unter den Händen des Pianisten zu einem aufrührerischen, widerständigen Akt. Tänzerisch dagegen mit triolischer Begleitung die Mélodie (Nr. 3); die Polichinelle (Nr. 4) wiederum glich einer hexenhaften Baba Jaga, wild umher tanzend und die Köpfe verdrehend, wogegen die abschließend Serenade (Nr. 5), ein Fandango im dreiviertel Takt, in die Wirklichkeit zurückführte – wenn auch nicht so richtig.

Wenig Beifall zulassend leitete Lisiecki das Finale mit dem Nocturne op. 72 Nr. 1 (1827) ein: sehr schnell, eher ein Wachmacher, um dann übergangslos in das h-Moll Scherzo Nr. 1 op. 20 (1831) überzuleiten. Chopin, ähnlich alt wie Lisiecki heute, schrieb dieses furiose, gefühlsbetonte Stück unter den Eindrücken seiner Ankunft in Paris, die Stadt, die er Zeit seines Lebens (mit kurzzeitigen Ausnahmen) nicht mehr verlassen wird. Ein Stück zwischen Wahnsinn und Genie, zwischen Himmel-hoch-jauchzend-und-zu-Tode-betrübt, eines, das keine Mitteltöne kennt. Und so spielte es Lisiecki. Ein Klaviervirtuose mit eigener Stilinterpretation, eine Gegenwelt der besonderen Art kreierend, ein 'Chopin' des 21. Jahrhunderts. Bekanntlich scheute Chopin öffentliche Auftritte (bekannt sind lediglich drei), Lisiecki scheint in dieses Raster nicht zu passen, noch nicht. Eine pianistische Steigerung jedoch ist kaum noch vorstellbar.



Die Zugabe, die Träumerei aus Schumanns Kinderszenen op. 15, bot einen dankbar empfundenen Absacker nach einem im positiven Sinne musikalisch überbordenden Klavierkonzert eines mittlerweile herangereiften Magiers an den Tasten. 

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