Dienstag, 10. April 2018


72. Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung (INMM) in Darmstadt, Akademie für Tonkunst, 04.-07.04.2018

Erkundungen: Gegenwartsmusik als Forschung und Experiment

Vorträge und Konzert am 05.04.2018




Gibt es eine Forschung der Kunst über sich selbst? Gibt es „Künstlerische Forschung“?
Auf die Musik bezogen stellt sich also die Frage, ob das Komponieren selbst schon Forschung ist, ob kompositorische Praxis, denn hierum geht es, per se ohne Forschung gar nicht auskommt?


Jörn Peter Hiekel, der Vorsitzende des INMM, machte denn auch in seinem Eingangsreferat zur diesjährigen Tagung unter dem Titel: Gegenwartsmusik als Forschung und Experiment, durch Hinweise auf Komponisten wie Heiner Goebbels, Richard Strauss, Luciano Berio, Luigi Nono, Mauricio Kagel, Robert Schumann, Pierre Boulez und Bernd Alois Zimmermann eindrucksvoll deutlich, dass jeder „seinen Kopf recht tüchtig anstrengen muss“ (Richard Strauss), wenn seine Kunst den Zweck der Erkenntnis erreichen möchte. Kunst sei wissensgenerierende Praxis, sei Aufschließung des Verschlossenen, und solle, um mit Luigi Nono zu sprechen, „das Ohr, den Intellekt aufwecken“.

Schon in der Antike, so Hiekel, habe man den Zusammenhang zwischen der künstlerischen Praxis und der Forschung gekannt, aber erst in den letzten 15 Jahren sei er in spezifischer Weise wieder in das Zentrum der Auseinandersetzung gerückt. Die vielschichtigen Gründe hierfür lägen aber in letzter Konsequenz an der  transdisziplinären Arbeit der Künstler und Kunstformate. Die Beschäftigung der Komponisten mit anderen Künsten, schon bei Schumann und Schubert gang und gäbe, sei heute zu einem unbedingten Muss geworden und habe das Problem der Praxis-Forschung, der Practice-Based Research, der Artistic Research, erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Heiner Goebbels, von Hiekel mehrmals zitiert, fordere das Experiment. Forschung sei für ihn mit dem Experimentieren gleichgesetzt. Womit sich die Frage nach dem Verhältnis von Experiment und Forschung stellt und danach, ob Artistic Research überhaupt eine eigene wissenschaftliche Disziplin sein kann.

Kunst und Forschung


Darauf versuchte Christa Brüstle, Musikwissenschaftlerin an der FU Berlin, in ihrem Beitrag Artistic Research oder Künstlerische Forschung eine Antwort zu geben.

Was bedeutet Artistic Research? fragte sie eingangs und versuchte, in Anlehnung an den Philosophen, Musiktheoretiker und Gründer dieser Forschungsrichtung an der Universität Leiden, Henk Borgdorff, eine Antwort zu formulieren, wobei sie die Forschung auf drei Ebenen ansiedelte: die Forschung über die Kunst (gemeint damit die Interpretation der existierenden Werke und Artefakte), die Forschung für die Kunst (Instrumentation, Techniken) und schließlich die Forschung in der Kunst (performative und dramaturgische Aspekte und Perspektiven).
Die Kernfragen nach der Ontologie, der Erkenntnistheorie und der Methodologie von Artistik Research wollte sie dann unter insgesamt zwölf Kriterien (wie Objektivität, Nachprüfbarkeit etc.) bearbeitet wissen, wobei sie sich eng an den Kanon der Natur- und Geisteswissenschaften anlehnte.
Ihr praktisches Beispiel eines improvisierenden Musikers, der seine eigene Arbeit erforscht, dokumentiert, wissenschaftlich bearbeitet und beurteilt, konnte dabei nicht unbedingt überzeugen. Die objektive Rolle des Künstlers in der Forschung blieb weitestgehend im Unklaren. Der Diskussionsbeitrag vom Komponisten Manos Tsangaris brachte das Kernproblem auf den Punkt: „Es geht in der Kunst um die Grundfragen der Menschheit, um die Dringlichkeit dessen, was Kunst zu erfüllen hat“, meinte er und fragte weiter: „Was ist heute eigentlich noch Musik?“ Sein Fazit: „Artistic Research, künstlerische Forschung ist solange unerheblich, solange man sich nicht auf die Grundfragen der Musik besinnt.“

Eine perfekte Überleitung zu Dieter Mersch, Professor für Ästhetik an der Hochschule in Zürich, dessen Thema: Komposition als Forschung genau in diese Kerbe, vielleicht sogar Wunde, stieß. Mersch unterteilte sein Referat in sechs Abschnitte. Ganz in der Tradition der kritischen Theorie begründete er seine Zustimmung praxisorientierter Kunstforschung mit folgenden Thesen:
-Kunstforschung als Praxis sei ein eigenes Forschungsfach, quasi ein eigenes Genre innerhalb der Musikwissenschaft und überhaupt der Wissenschaften.
-Dennoch müsse sie sich, sollte sie professionell betrieben werden, weitgehend an den wissenschaftlichen Kriterien der anderen Wissenschaften orientieren.
-Seit der  Postmoderne stehe die Prozesslogik im Vordergrund, d.h. der Weg ist das Ziel, und somit seien Experiment und Forschung gerade heute umso notwendiger.
-Praxisorientierte Kunstforschung durchkreuze jedoch auch herkömmliche Institutionen und Wissenschaften. Sie sei genuin demokratisch orientiert und könne durchaus als Konkurrenz zur etablierten Forschung verstanden werden.
- Forschung habe keine Definition, ihr Kern sei lediglich, begründetes Wissen herzustellen und entsprechende Urteile zu fällen, wobei die methodischen Wege dorthin strittig seien, was aber auch mit der historischen Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften seit dem 19. Jahrhundert zu tun habe.

Mersch sah Verwandtschaften zwischen Künsten und Wissenschaften, aber auch Unterschiede. Dazu bemühte er den Klangkünstler und Komponisten, Alvin Lucier (*1931), der in einem experimentellen Versuch mit Alpha-Wellen das Paradoxon herausfand, dass immer dann Musik geschieht, wenn nichts im Gehirn geschieht und umgekehrt. Hier, so Mersch, treffe Kunst eine Aussage über sich selbst, die sie von anderen Wissenschaften unterscheide. Für ihn ist dies ein Beispiel für die Berechtigung einer Artistic Research, denn hier werde nicht allein Kunst und Erkenntnis, sondern die Ästhetische Praxis als Wissenspraxis sui generis hinterfragt. Forschung als Weise des Denkens manifestiere sich hier einzigartig. (siehe auch den Vortrag von Peter Ablinger: „Kann Kunst Forschung sein?“)

Kunst, fuhr er fort, sei nur dann eine, wenn sie einen Überschuss an Ästhetik erzeuge. Das aber könne sie nur über die Selbstreflexion, über ihre Selbstbefragung wie über ihre Selbstzweifel. Ganz in der Tradition der Adornoschen Tendenz des musikalischen Materials (Ästhetische Theorie), das alle Möglichkeiten der vorgeformten Materie bietet und historisch fortschreitet, verwies er auf die existentielle Dringlichkeit der künstlerischen Tätigkeit gegenüber der realen Welt. Insofern könne Kunstforschung niemals Selbstzweck sein, sondern müsse um ihrer Existenz Willen immer „eine Form von Weisheit“ vermitteln. Auf die Tendenz des musikalischen Materials bezogen könnte man hier auch von humanem Fortschritt sprechen. Ist also Musik nicht immer schon Forschung? fragt er abschließend. Ja, denn Forschung liegt genuin in der Kunst verborgen.

Die Resonanz als Forschungsfeld nahm sich der promovierte Lehrer am Christlichen Gymnasium Jena, Philipp Schäffler, zum Thema und stellte die Frage nach der Überwindung der Dualismen zwischen Objekt und Subjekt, Theorie und Praxis, Gehirn und Geist. Vergleichende Rezensionen dreier Arbeiten darüber - Christian Grüny: Kunst des Übergangs, (2014), Hartmut Rosa: Resonance (2016) und Veit Erlmann: Reason and Resonanz (2015) -, ein Experiment mit zwei Metronomen auf einem künstlichen Resonanzboden, mit dem Ergebnis, dass sich die unterschiedlich eingestellten Metronome anglichen sowie ein Video-Aufführungsbeispiel von Schülern der Komposition Amadeu Antonio Kiowa (2000) von Matthias Kaul (bekanntlich  wurde Kiowa 1990 von 50 Skinheads zu Tode geprügelt), waren gut gemeint, konnten aber das beabsichtigte Forschungsfeld der Resonanz nicht wirklich überzeugend vermitteln.

Resonanz bleibt ein weites Feld und wird wohl dem Verständnis von Musik (bezogen auf das abschließende Zitat des Referenten von Ludwig Wittgenstein: „Wer Musik versteht, wird anders (mit anderem Gesichtsausdruck z.B.) zuhören, reden, als der es nicht versteht“, noch einige Türen öffnen müssen. Man wünscht seinem Forschungsprojekt viel Erfolg.

Weltzugänge


Judith Siegmund, Künstlerin und Professorin für Gegenwartsästhetik an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart, eröffnete den Themenblock 2: Weltzugänge.

Sie, die bildende Künstlerin, trieb die Frage um, was denn Materialität im Musikalischen sei? Was tut sich zwischen dem Herstellen eines Kunstwerks (Materialauswahl) und dem Ausführen, seiner Präsentation? Ist nicht allein schon die Auswahl des Materials entscheidend für das zu entstehende künstlerische Endprodukt? Liegt nicht dem spezifischen Gebrauch des Materials ein spezifisches Weltverhältnis des Künstlers bzw. Komponisten zugrunde? 
Vom Kunstbegriff Heideggers und Hannah Arendts ausgehend, wonach die Wesenszüge eines Kunstwerks das Aufstellen einer Welt und das Herstellen der Erde sei (Heidegger) bzw. der Gebrauch des Materials immer schon ein „interpretierender Weltzugang“ sei (Arendt), kam sie auf die Materialfrage in der Musik zu sprechen, die sie als Nichtmusikerin und Nichtkomponistin beschäftige und wofür sie bisher keine Antwort parat habe.
Allerdings, das sei festgehalten, ist das künstlerische Material auch für den Komponisten alles, was ihm zur Verfügung steht, worin er sich von den bildenden Künsten im Prinzip nicht unterscheidet. Erst die Auswahl, die Idee macht aus dem künstlerischen (musikalischen) Material ein spezifisches Kunstwerk, ein subjektives Musikwerk mit Eigensinn und Weltbezug. Und hier gehen alle Künste ähnliche Wege.

Ganz konkrete Weltzugänge demonstrierten der Komponist, Hannes Seidl, und der Videokünstler, Daniel Kötter. Sie stehen für ein alternatives Musiktheater, ohne Anbindung an den herkömmlichen institutionellen Theater- Opern- und Musikbetrieb. Ein ganz neuer Weltzugang?

Mit einer Trilogie: Kredit, Recht und Liebe (uraufgeführt: Steirischer Herbst 2013) gehen sie ganz eigene experimentelle Wege, Film, Musik und Handlung auf die Bühne zu bringen.
So ist Kredit mit fünf Frankfurter Bankern, Recht mit Rechtswissenschaftlern und Liebe  mit Einwohnern vom Nordkap realisiert worden. Die Videos werden mit Musikern, Sprechern, Chöre und viel Elektronik kombiniert, das Bühnenbild bleibt im Wesentlichen statisch (die Veränderungen liegen in der Konstellation der Instrumente), die Handlung findet ausschließlich auf den Videos statt. So beispielsweise die Rechtswissenschaftler auf einem Schengener Campingplatz, gemeinsam mit Flüchtlingen, wo sie die Aufgabe zu lösen haben, ein Manifest des allseits gerechten Rechts zu erstellen mit dem Ergebnis: „Wir wollen Musik!“ Oder in Liebe, wo ein einsamer Wanderer in einer menschfeindlichen Eiswelt einem Fjord zustrebt, wo er mit anderen einsamen Wanderern zusammentrifft und gleichzeitig auf der Bühne ein Mann einen riesigen Eisblock zerschlägt und die Teile über/auf diverse Instrumente (Percussion, Keyboards etc.) hängt/legt, wo sie langsam schmelzen und Klänge/Geräusche erzeugen. Musik wird buchstäblich ans Eis delegiert.
Ein spannendes Projekt, das in ähnlicher Weise mit der Trilogie Stadt Land Fluss fortgesetzt und am 15. September 2018 im Mousonturm Frankfurt uraufgeführt werden soll.

Allerdings bleibt die Frage nach der Alternative zum Musiktheater. Die Arbeiten der beiden Künstler mögen witzig und außergewöhnlich sein. Ihre Mittel aber sind weder neu, noch alternativ zu bereits bestehenden theatralischen Werken. Man denke da in die diversen aktuellen  Produktionen wie Angst von Christian Jost, Schönerland von Nils Eichberg oder Der Mieter von Arnulf Hermann, die sich der gleichen Medien bedienen und ihre Werke direkt mit den Akteuren (Dramaturgen, Bühnenbildner, Licht- und Videokünstlern) auf der Bühne entwickelt haben. Ob Musiktheater oder Oper: beide „Begriffe“ sind weder prekär, wie von den Künstlern behauptet, noch überfällig.

Seidl und Kötter befinden sich durchaus im Modus des Experimentierens, was ihren Werken anzumerken ist. Vieles ist hypothetisch und noch ausbaufähig. Ob allerdings ein neues Musikgenre, oder gar eine neue Musikgattung dabei entsteht, muss abgewartet werden.

ensemble mosaik spielt The audience (2018) von Hannes Seidl und Daniel Kötter (Foto: Christoph Rau)

Erstes Abendkonzert im Großen Saal der Akademie für Tonkunst


Das Konzert I – wie üblich enden die Vorträge, Workshops und Diskussionen mit einer musikalischen Soirée – wurde vom siebenköpfigen ensemble mosaik  sowie der Sängerin Angela Postweiler bestritten. Zwei Werke von Chaya Czernowin (*1957) sowie jeweils eines von Enno Poppe (*1969), Ann Cleare (*1983) sowie Hannes Seidl/Daniel Kötter (*1977/1976) standen auf dem Programm.

Hervorzuheben die Sopranistin Angela Postweiler, die Chaya Czernowins Adiantum Capillus-Veneris für Stimme und Atem (2015) mit feinster Ziselierung kontrapunktierte. Die Atem- und Stimmübung verwandelte sie in ein gesangliches Kunstwerk.

Enno Poppes Trauben (2005) für Klaviertrio wiederum bestand überwiegend aus aufreizenden Glissandi mit akkordischen Klavieruntermalungen. Unregelmäßige Zeitmaße mit Accerelerandos, Ritardandos und eruptiver Dynamik sowie melodisch-lyrischen Momenten waren von Anfang bis Schluss spannungsgeladen. Seine Tontrauben changierten zwischen bitter und süß, so wie im richtigen Leben auch.

Ann Cleare, eine junge US-amerikanische Komponistin, ließ in ihrem Stück Ore (2015) für Streichtrio und Klarinette mit allerlei Steinen spielen. Mikrotonale Verschiebungen von schriller Höhe bis zum brummenden Bass der Klarinette. Eine Klangreibung zwischen Härte und Weichheit – von großer mineralischer Vielfalt, perfekt vom ensemble mosaik interpretiert.

The audience (2018) für Musiker und Film von Hannes Seidl und Daniel Kötter, ein Video im Video, ein Theater im Theater, startete nach anfänglicher technischer Panne den Konzertabend. Zuschauer auf der Bühne schauten ein Video an (ein Tag im Leben eines chinesischen Dorfes), in dem Chinesen wiederum einen Film anschauten. Dazu erklang Musik von einem Quartett mit Percussion und drei Streichern. Durchfahrende laute Züge bildeten den Rahmen dieser Performance. Hören und Zuhören, Beobachten und Beobachtetwerden, Sehen und Gesehenwerden lag der Idee von The audience zugrunde. Wieder ein Experiment, wieder ein offenes Ergebnis und viele fragende Gesichter im Publikum.

Dagegen  geriet Ayre (2015) für Septett von Chaya Czernowin im Finale des Abends zu einem Feuerwerk der Leidenschaften. Mal durch Federn gezogen, dann wieder durch Dickicht gerobbt, danach Flächen mit Sägespänen bestreut, die dann wieder durch gefährliche Winde in alle Himmelsrichtungen verteilt wurden. Ein Farbenrausch mit viel Reibung und kurzen lyrischen Sprengseln. Ein „negativer Raum“ (Czernowin) von Klangkonstellationen, der  offen machte für die kommenden Diskussionen und praktischen Versuche.

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