72.
Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und
Musikerziehung (INMM) in Darmstadt, Akademie für Tonkunst, 04.-07.04.2018
Erkundungen: Gegenwartsmusik als Forschung und Experiment
Vorträge und
Konzert am 05.04.2018
Gibt es eine Forschung der Kunst über sich selbst? Gibt
es „Künstlerische Forschung“?
Auf die Musik bezogen stellt sich also die Frage, ob
das Komponieren selbst schon Forschung ist, ob kompositorische Praxis, denn
hierum geht es, per se ohne Forschung gar nicht auskommt?
Jörn Peter Hiekel, der Vorsitzende des
INMM, machte denn auch in seinem Eingangsreferat zur diesjährigen Tagung unter
dem Titel: Gegenwartsmusik als Forschung
und Experiment, durch Hinweise auf Komponisten wie Heiner Goebbels, Richard
Strauss, Luciano Berio, Luigi Nono, Mauricio Kagel, Robert Schumann, Pierre
Boulez und Bernd Alois Zimmermann eindrucksvoll deutlich, dass jeder „seinen
Kopf recht tüchtig anstrengen muss“ (Richard Strauss), wenn seine Kunst den
Zweck der Erkenntnis erreichen möchte. Kunst sei wissensgenerierende
Praxis, sei Aufschließung des Verschlossenen, und solle, um mit Luigi Nono zu
sprechen, „das Ohr, den Intellekt aufwecken“.
Schon in der Antike, so Hiekel, habe man den
Zusammenhang zwischen der künstlerischen Praxis und der Forschung gekannt, aber
erst in den letzten 15 Jahren sei er in spezifischer Weise wieder in das
Zentrum der Auseinandersetzung gerückt. Die vielschichtigen Gründe hierfür lägen
aber in letzter Konsequenz an der
transdisziplinären Arbeit der Künstler und Kunstformate. Die
Beschäftigung der Komponisten mit anderen Künsten, schon bei Schumann und
Schubert gang und gäbe, sei heute zu einem unbedingten Muss geworden und habe
das Problem der Praxis-Forschung, der Practice-Based
Research, der Artistic Research,
erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Heiner Goebbels, von Hiekel mehrmals
zitiert, fordere das Experiment. Forschung sei für ihn mit dem Experimentieren
gleichgesetzt. Womit sich die Frage nach dem Verhältnis von Experiment und
Forschung stellt und danach, ob Artistic
Research überhaupt eine eigene wissenschaftliche Disziplin sein kann.
Kunst und Forschung
Darauf versuchte Christa Brüstle, Musikwissenschaftlerin an der FU Berlin, in ihrem
Beitrag Artistic Research oder
Künstlerische Forschung eine Antwort zu geben.
Was bedeutet Artistic
Research? fragte sie eingangs und versuchte, in Anlehnung an den
Philosophen, Musiktheoretiker und Gründer dieser Forschungsrichtung an der
Universität Leiden, Henk Borgdorff, eine Antwort zu formulieren, wobei sie die
Forschung auf drei Ebenen ansiedelte: die Forschung über die Kunst (gemeint damit die Interpretation der existierenden
Werke und Artefakte), die Forschung für
die Kunst (Instrumentation, Techniken) und schließlich die Forschung in der Kunst (performative und
dramaturgische Aspekte und Perspektiven).
Die Kernfragen nach der Ontologie, der
Erkenntnistheorie und der Methodologie von Artistik
Research wollte sie dann unter insgesamt zwölf Kriterien (wie Objektivität,
Nachprüfbarkeit etc.) bearbeitet wissen, wobei sie sich eng an den Kanon der
Natur- und Geisteswissenschaften anlehnte.
Ihr praktisches Beispiel eines improvisierenden
Musikers, der seine eigene Arbeit erforscht, dokumentiert, wissenschaftlich
bearbeitet und beurteilt, konnte dabei nicht unbedingt überzeugen. Die objektive
Rolle des Künstlers in der Forschung blieb weitestgehend im Unklaren. Der
Diskussionsbeitrag vom Komponisten Manos Tsangaris brachte das Kernproblem auf
den Punkt: „Es geht in der Kunst um die Grundfragen der Menschheit, um die
Dringlichkeit dessen, was Kunst zu erfüllen hat“, meinte er und fragte weiter: „Was
ist heute eigentlich noch Musik?“ Sein Fazit: „Artistic Research, künstlerische
Forschung ist solange unerheblich, solange man sich nicht auf die Grundfragen
der Musik besinnt.“
Eine perfekte Überleitung zu Dieter Mersch, Professor für Ästhetik an der Hochschule in Zürich,
dessen Thema: Komposition als Forschung
genau in diese Kerbe, vielleicht sogar Wunde, stieß. Mersch unterteilte sein
Referat in sechs Abschnitte. Ganz in der Tradition der kritischen Theorie
begründete er seine Zustimmung praxisorientierter Kunstforschung mit folgenden
Thesen:
-Kunstforschung als Praxis sei ein eigenes
Forschungsfach, quasi ein eigenes Genre innerhalb der Musikwissenschaft und
überhaupt der Wissenschaften.
-Dennoch müsse sie sich, sollte sie professionell
betrieben werden, weitgehend an den wissenschaftlichen Kriterien der anderen
Wissenschaften orientieren.
-Seit der
Postmoderne stehe die Prozesslogik im Vordergrund, d.h. der Weg ist das
Ziel, und somit seien Experiment und Forschung gerade heute umso notwendiger.
-Praxisorientierte Kunstforschung durchkreuze jedoch
auch herkömmliche Institutionen und Wissenschaften. Sie sei genuin demokratisch
orientiert und könne durchaus als Konkurrenz zur etablierten Forschung
verstanden werden.
- Forschung habe keine Definition, ihr Kern sei lediglich,
begründetes Wissen herzustellen und entsprechende Urteile zu fällen, wobei die
methodischen Wege dorthin strittig seien, was aber auch mit der historischen Trennung
von Natur- und Geisteswissenschaften seit dem 19. Jahrhundert zu tun habe.
Mersch sah Verwandtschaften zwischen Künsten und
Wissenschaften, aber auch Unterschiede. Dazu bemühte er den Klangkünstler und
Komponisten, Alvin Lucier (*1931), der in einem experimentellen Versuch mit
Alpha-Wellen das Paradoxon herausfand, dass immer dann Musik geschieht, wenn
nichts im Gehirn geschieht und umgekehrt. Hier, so Mersch, treffe Kunst eine
Aussage über sich selbst, die sie von anderen Wissenschaften unterscheide. Für
ihn ist dies ein Beispiel für die Berechtigung einer Artistic Research, denn hier werde nicht allein Kunst und
Erkenntnis, sondern die Ästhetische Praxis als Wissenspraxis sui generis
hinterfragt. Forschung als Weise des Denkens manifestiere sich hier einzigartig.
(siehe auch den Vortrag von Peter
Ablinger: „Kann Kunst Forschung sein?“)
Kunst, fuhr er fort, sei nur dann eine, wenn sie
einen Überschuss an Ästhetik erzeuge. Das aber könne sie nur über die
Selbstreflexion, über ihre Selbstbefragung wie über ihre Selbstzweifel. Ganz in
der Tradition der Adornoschen Tendenz des musikalischen Materials (Ästhetische Theorie), das alle Möglichkeiten der
vorgeformten Materie bietet und historisch fortschreitet, verwies er auf die
existentielle Dringlichkeit der künstlerischen Tätigkeit gegenüber der realen Welt. Insofern könne Kunstforschung niemals Selbstzweck sein,
sondern müsse um ihrer Existenz Willen immer „eine Form von Weisheit“
vermitteln. Auf die Tendenz des musikalischen Materials bezogen könnte man hier
auch von humanem Fortschritt sprechen. Ist also Musik nicht immer schon
Forschung? fragt er abschließend. Ja, denn Forschung liegt genuin in der Kunst
verborgen.
Die Resonanz als Forschungsfeld nahm sich der
promovierte Lehrer am Christlichen Gymnasium Jena, Philipp Schäffler, zum Thema und stellte die Frage nach der
Überwindung der Dualismen zwischen Objekt und Subjekt, Theorie und Praxis,
Gehirn und Geist. Vergleichende Rezensionen dreier Arbeiten darüber - Christian Grüny: Kunst des Übergangs, (2014), Hartmut Rosa: Resonance (2016) und
Veit Erlmann: Reason and Resonanz (2015) -, ein Experiment mit zwei Metronomen
auf einem künstlichen Resonanzboden, mit dem Ergebnis, dass sich die unterschiedlich
eingestellten Metronome anglichen sowie ein Video-Aufführungsbeispiel von
Schülern der Komposition Amadeu Antonio
Kiowa (2000) von Matthias Kaul (bekanntlich wurde Kiowa 1990 von 50 Skinheads zu Tode
geprügelt), waren gut gemeint, konnten aber das beabsichtigte Forschungsfeld
der Resonanz nicht wirklich überzeugend vermitteln.
Resonanz bleibt ein weites Feld und wird wohl dem
Verständnis von Musik (bezogen auf das abschließende Zitat des Referenten von
Ludwig Wittgenstein: „Wer Musik versteht, wird anders (mit anderem
Gesichtsausdruck z.B.) zuhören, reden, als der es nicht versteht“, noch einige
Türen öffnen müssen. Man wünscht seinem Forschungsprojekt viel Erfolg.
Weltzugänge
Judith
Siegmund, Künstlerin und Professorin für Gegenwartsästhetik
an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart,
eröffnete den Themenblock 2: Weltzugänge.
Sie, die bildende Künstlerin, trieb die Frage um,
was denn Materialität im Musikalischen sei? Was tut sich zwischen dem Herstellen eines Kunstwerks (Materialauswahl)
und dem Ausführen, seiner
Präsentation? Ist nicht allein schon die Auswahl des Materials entscheidend für
das zu entstehende künstlerische Endprodukt? Liegt nicht dem spezifischen
Gebrauch des Materials ein spezifisches Weltverhältnis des Künstlers bzw.
Komponisten zugrunde?
Vom Kunstbegriff Heideggers und Hannah Arendts
ausgehend, wonach die Wesenszüge eines Kunstwerks das Aufstellen einer Welt und
das Herstellen der Erde sei (Heidegger) bzw. der Gebrauch des Materials immer
schon ein „interpretierender Weltzugang“ sei (Arendt), kam sie auf die
Materialfrage in der Musik zu sprechen, die sie als Nichtmusikerin und
Nichtkomponistin beschäftige und wofür sie bisher keine Antwort parat habe.
Allerdings, das sei festgehalten, ist das
künstlerische Material auch für den Komponisten alles, was ihm zur
Verfügung steht, worin er sich von den bildenden Künsten im Prinzip nicht
unterscheidet. Erst die Auswahl, die Idee macht aus dem künstlerischen
(musikalischen) Material ein spezifisches Kunstwerk, ein subjektives Musikwerk
mit Eigensinn und Weltbezug. Und hier gehen alle Künste ähnliche Wege.
Ganz konkrete Weltzugänge demonstrierten der
Komponist, Hannes Seidl, und der
Videokünstler, Daniel Kötter. Sie
stehen für ein alternatives Musiktheater, ohne Anbindung an den herkömmlichen
institutionellen Theater- Opern- und Musikbetrieb. Ein ganz neuer Weltzugang?
Mit einer Trilogie:
Kredit, Recht und Liebe (uraufgeführt: Steirischer
Herbst 2013) gehen sie ganz eigene experimentelle Wege, Film, Musik und
Handlung auf die Bühne zu bringen.
So ist Kredit
mit fünf Frankfurter Bankern, Recht
mit Rechtswissenschaftlern und Liebe mit Einwohnern vom Nordkap realisiert worden.
Die Videos werden mit Musikern, Sprechern, Chöre und viel Elektronik kombiniert,
das Bühnenbild bleibt im Wesentlichen statisch (die Veränderungen liegen in der
Konstellation der Instrumente), die Handlung findet ausschließlich auf den
Videos statt. So beispielsweise die Rechtswissenschaftler auf einem Schengener
Campingplatz, gemeinsam mit Flüchtlingen, wo sie die Aufgabe zu lösen haben,
ein Manifest des allseits gerechten Rechts zu erstellen mit dem Ergebnis: „Wir
wollen Musik!“ Oder in Liebe, wo ein
einsamer Wanderer in einer menschfeindlichen Eiswelt einem Fjord
zustrebt, wo er mit anderen einsamen Wanderern zusammentrifft und gleichzeitig
auf der Bühne ein Mann einen riesigen Eisblock zerschlägt und die Teile über/auf diverse Instrumente (Percussion, Keyboards etc.) hängt/legt, wo sie
langsam schmelzen und Klänge/Geräusche erzeugen. Musik wird buchstäblich
ans Eis delegiert.
Ein spannendes Projekt, das in ähnlicher Weise mit
der Trilogie Stadt Land Fluss
fortgesetzt und am 15. September 2018 im Mousonturm Frankfurt uraufgeführt
werden soll.
Allerdings bleibt die Frage nach der Alternative zum
Musiktheater. Die Arbeiten der beiden Künstler mögen witzig und außergewöhnlich
sein. Ihre Mittel aber sind weder neu, noch alternativ zu bereits bestehenden
theatralischen Werken. Man denke da in die diversen aktuellen Produktionen wie Angst von Christian Jost, Schönerland
von Nils Eichberg oder Der Mieter von
Arnulf Hermann, die sich der gleichen Medien bedienen und ihre Werke direkt mit
den Akteuren (Dramaturgen, Bühnenbildner, Licht- und Videokünstlern) auf der
Bühne entwickelt haben. Ob Musiktheater oder Oper: beide „Begriffe“ sind weder
prekär, wie von den Künstlern behauptet, noch überfällig.
Seidl und Kötter befinden sich durchaus im Modus des
Experimentierens, was ihren Werken anzumerken ist. Vieles ist hypothetisch und
noch ausbaufähig. Ob allerdings ein neues Musikgenre, oder gar eine neue Musikgattung
dabei entsteht, muss abgewartet werden.
Erstes Abendkonzert im Großen Saal der Akademie für Tonkunst
Das
Konzert I – wie üblich enden die Vorträge, Workshops und
Diskussionen mit einer musikalischen Soirée – wurde vom siebenköpfigen ensemble
mosaik sowie der Sängerin Angela Postweiler bestritten. Zwei
Werke von Chaya Czernowin (*1957) sowie jeweils eines von Enno Poppe (*1969),
Ann Cleare (*1983) sowie Hannes Seidl/Daniel Kötter (*1977/1976) standen auf
dem Programm.
Hervorzuheben die Sopranistin Angela Postweiler, die
Chaya Czernowins Adiantum Capillus-Veneris für Stimme und
Atem (2015) mit feinster Ziselierung kontrapunktierte. Die Atem- und Stimmübung
verwandelte sie in ein gesangliches Kunstwerk.
Enno
Poppes Trauben (2005) für Klaviertrio wiederum bestand
überwiegend aus aufreizenden Glissandi mit akkordischen Klavieruntermalungen.
Unregelmäßige Zeitmaße mit Accerelerandos, Ritardandos und eruptiver Dynamik
sowie melodisch-lyrischen Momenten waren von Anfang bis Schluss
spannungsgeladen. Seine Tontrauben changierten zwischen bitter und süß, so wie
im richtigen Leben auch.
Ann
Cleare, eine junge US-amerikanische Komponistin, ließ in
ihrem Stück Ore (2015) für Streichtrio und Klarinette mit allerlei Steinen spielen. Mikrotonale Verschiebungen von schriller Höhe bis zum brummenden Bass der
Klarinette. Eine Klangreibung zwischen Härte und Weichheit – von großer
mineralischer Vielfalt, perfekt vom ensemble
mosaik interpretiert.
The
audience (2018) für Musiker und Film von Hannes Seidl und
Daniel Kötter, ein Video im Video,
ein Theater im Theater, startete nach anfänglicher technischer Panne den
Konzertabend. Zuschauer auf der Bühne schauten ein Video an (ein Tag im Leben
eines chinesischen Dorfes), in dem Chinesen wiederum einen Film anschauten.
Dazu erklang Musik von einem Quartett mit Percussion und drei Streichern.
Durchfahrende laute Züge bildeten den Rahmen dieser Performance. Hören und
Zuhören, Beobachten und Beobachtetwerden, Sehen und Gesehenwerden lag der Idee
von The audience zugrunde. Wieder ein Experiment, wieder ein offenes
Ergebnis und viele fragende Gesichter im Publikum.
Dagegen
geriet Ayre (2015) für Septett von Chaya Czernowin im Finale des Abends zu einem Feuerwerk der
Leidenschaften. Mal durch Federn gezogen, dann wieder durch Dickicht gerobbt, danach
Flächen mit Sägespänen bestreut, die dann wieder durch gefährliche Winde in alle
Himmelsrichtungen verteilt wurden. Ein Farbenrausch mit viel Reibung und kurzen
lyrischen Sprengseln. Ein „negativer Raum“ (Czernowin) von Klangkonstellationen,
der offen machte für die kommenden
Diskussionen und praktischen Versuche.
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