Dienstag, 10. April 2018


72. Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung (INMM) in  Darmstadt, Akademie für Tonkunst, 04.-07.04.2018


Erkundungen: Gegenwartsmusik als Forschung und Experiment

Vorträge, Workshop und Konzert am 06.04.2018

Foto: Christoph Rau

Medienbasierte Musik (Kritik)


Der Themenblock 4: Medienbasierte Musik wurde eingeleitet vom österreichischen Komponisten und Multimediakünstler, Peter Ablinger. Kann Kunst Forschung sein? oder „Was wir nicht beschreiben können, ist das, was uns glücklich macht“, lautete der Titel seines Vortrags, wobei er ein Zitat des russisch-französischen Philosophen, Alexandre Kojève (1902-1968), benutzte.


„Mein Urteil“, befürchtete er zu Anfang, „wird negativ ausfallen“. Er fühle sich wie ein Don Quichotte, der gegen unsichtbare Windmühlen ankämpfe, wenn dieses Thema aufkomme. An drei praktischen Beispielen machte er deutlich, warum Kunst nicht erforscht werden könne. 

Zunächst an Alvin Luciers (*1931) I am sitting in the Room (1969). Hier lässt dieser ein besprochenes Tonband ca. eine Minute abspielen, das dann wieder auf ein nächstes übertragen wird. Der ganze Vorgang geschieht 32 Mal. Was dabei geschieht ist frappierend. Die Stimme wird immer räumlicher, bis sie absolut unverständlich nur noch aus Raumresonanzen besteht.
Ab der 17. Überspielung kommt noch ein weiterer qualitativer Sprung dazu. Es sind harmonische Veränderungen und ein Tieferwerden des Klangs. Ablingers Fazit: Entweder wurde ein neues Tonband genommen, bei der 17. Wiederholung neu begonnen, oder das Tonbandmaterial zeigte Verschleißerscheinungen. Das aber sei lediglich ein handwerkliches, ein Form-Problem, was aber mit Kunst-Forschung rein gar nichts zu tun habe. Je mehr Forschung also, desto weniger Kunst.

Sein zweites Beispiel bestand aus Tom Johnsons (*1939) rational melodies Nr. 3 (1993), eine Ansammlung von einfachsten Tonfolgen. Ist das eine unverschämte Unterforderung, eine Zumutung an den Geist des Rezipienten? Auch hier sah Ablinger die Grenze von Forschung erreicht, denn jede Art von Forschung reduziere zwangsläufig das Material zu einem Minimum und zähme somit die Kunst auf gefährliche Weise. Kunst lebe vom Nichtwissen, von der Begriffslosigkeit und die werde durch Forschung automatisch ignoriert.

Quadrat (1994) schließlich stammte vom Komponisten persönlich. Es besteht aus weißem Rauschen, das vier Minuten lang andauert. Bedeutet es Überforderung oder Unterforderung? Nichts damit anfangen zu können, das sei der Sinn dieser musikalischen Übung, so Ablinger, und verweist auf den italienischen Philosophen Giorgio Agamben (*1942), der Kunst als Wissen radikal infrage stelle.
Der moderne westliche Mensch werde durch die Forschung und kapitalorientierte Wissensanhäufung auf sein 'nacktes Leben' reduziert, in dem Sinnlichkeit und Ästhetik keine Rolle mehr spielten. Wenn aber Wissen zum Kapital werde – und der Kapitalismus sei alternativlos –, dann müsse Kunst und Musik, um ihre Berechtigung zu wahren, das genaue Gegenteil bewirken: Unwissen, Nicht-Denken und Nicht-Können. Sinnliche Gegebenheiten der Kunst und  rationales Wissen schlössen sich ebenso aus wie sich positivistische Forschung und Kunst nicht vertrügen. Heutzutage könne man ein künstlerisches Meisterwerk eigentlich darin erkennen, das es Wissen, Hören und Wahrnehmen außer Kraft setze.

Eine gewagte These, die er dennoch an der Faltstelle zwischen künstlerischer Sinnlichkeit und Kunst als Wissen und Forschung  (Gilles Deleuze) versöhnen möchte. Nur an der Grenze der Ablehnung, des Unverständlichen und Unaussprechlichen, so sein Fazit, greife die Dialektik und habe dann etwas über das Jenseits der Grenze auszusagen, was mit künstlerischer Forschung umschrieben werden könne. Ein Paradoxon, welches künstlerische Forschung lediglich als die Möglichkeiten der Kunsterweiterung erlaubt. Eine hochspannende Bemerkung eines Künstlers und Komponisten, die ein buchstäblich Schwarzes Quadrat im Sinne Kasimir Malewitschs (1878-1935) in den Köpfen der Teilnehmer hinterließ.

Medienbasierte Musik (Projekte)


In völligem Kontrast dazu stand der Vortrag von Marko Ciciliani über das Forschungsprojekt GAPPP (auf Deutsch: Gamifizierte Audiovisuelle Performance und Aufführungspraxis), das seit 2016 besteht und in Graz sein Zentrum hat. Das auf Game-spiele aufbauende Unternehmen arbeitet ausschließlich auf Basis des Artistic Research, mit Methoden der Sozialwissenschaften und der Digitalen Sciences (Algorithmen). Von bisher insgesamt elf produzierten Stücken von sechs Künstlern stellte Ciciliani drei vor:

Game over von Christof Ressi (ein Game-Design mit Klarinettenbegleitung), Tonify von Martina Menegan und Stefan D´Alessio (ein Spiel zwischen zwei Spielern, wobei die Aufgabenlösungen – das Nachahmen von vorgegebenen Gesichtern - mit Musik korrelieren) sowie Tympanic Touch von Marko Ciciliani (ein Spiel ohne Zweck und Gewinner, bei dem Spieldynamik und Musik im Vordergrund stehen).

Fragebögen, so der Referent, hätten ergeben, dass das Publikum großen Wert auf die Performance, aber auch auf Video-Design und Musik lege. Man könne da noch keine genauen Aussagen machen. Wie überhaupt die komplexen Frage- und Forschungsbögen (auch für Komponisten) über Klänge, Regeln, Interaktionen, die Parameter zum Interface, den Mechanics und Performances, den Paidas (ungerichteten Games) und Ludi (zielgerichteten Games), Aesthetics Malleabilities (ästhetischen Formen) etc. noch in den Kinderschuhen steckten.

So auch der Ausblick. Die feste Projektgruppe arbeitet gerade an einer 3D-Welt Kilgore von Ciciliani, bei dem zwei Videos parallel laufen, begleitet von Wagners Walkürenritt digital verfremdet, das 2019 seine Uraufführung auf den Donaueschinger Musiktagen erhalten soll. Selbstkritisch räumte der Referent ein, dass die Ausgangslage des Projekts unklar, die Legitimation nach wie vor umstritten, der Zweck der Forschung noch offen sei. Man wünscht dem Team viel Erfolg und möchte ihm den wohlgemeinten Rat ans Herz legen, bei aller forschenden Wissenschaft die Kunst nicht zu vergessen.

Frédéric Bevilaqua und Pavlos Antoniadis, Leiter des Teams Interaction Son Musique Mouvement des IRCAM,  folgten der Einladung des INMM und demonstrierten neueste Forschungsergebnisse im Bereich Aufnahme, Analyse und musikalischer Gesten. 

Unglaubliches an Sticks, die auf Druck Musik erzeugen, Bälle, die beim Volleyball oder Handball Musik kreieren, Sensoren an Hand und Arm mit Klangwirkungen, Grainsticks mit eigenem Rhythmusgeber, Handgesture-Sensoren und last but not least gemeinsames Musizieren mit Zusammenschaltungen von Smart-Phones. Eine breite Palette von Software mit Überraschungseffekten. Aber Neue Musik, Musik mit dem Anspruch auf Erkenntnis mit der Tendenz gelungener Werke, das sind diese experimentellen Ergebnisse beileibe nicht. Allenfalls ein Spiel mit sich selbst auf der Suche nach Markttauglichkeit.

Workshop


In einem abschließenden IRCAM-Workshop nicht nur für Pianistinnen versuchte Pavlos Antoniadis ein System vorzustellen, das das Erlernen von schwierigen Partituren wesentlich erleichtern soll. Mit Hangelenkssensoren wurden Arm-,  Hand- und Fingerhaltung aufgezeichnet sowie gestische Bewegungen des Spielers (ein Teilnehmer aus dem Publikum) analysiert. Auch zeigte er ein Notensystem, mit dem schwierigste Stücke (Beispiel: Herma von Jannis Xenakis) vereinfacht dargestellt und dadurch angeblich besser geübt werden können. Zweck dabei: die Ökonomisierung und Quantifizierung des Repertoires durch schnelleres Lernen.

Viel Versprechen, viel Glauben und viel Vertrauen in die Technik, die immer mal wieder wegen der Datenfülle versagte. Was bleibt, sind Fragen wie: Kann überhaupt ein mäßig talentierter Pianist durch dieses Lernsystem zum Konzertpianisten werden? Kann und sollte überhaupt die Maschine den Menschen als Lehrer ersetzen? Würde sich, sollte dieses Lernsystem weltweit realisiert werden, wie von Antoniadis gewünscht, die Klaviermusik auf höheres Niveau bewegen, und wenn ja, auf welches?  Eine Utopie, die bei genauem Nachdenken gar nicht wünschenswert wäre, weil ein wichtiges Moment ausgeschlossen ist, nämlich der komplexe, sensitive Mensch in seiner individuellen und kollektiven Geschichtlichkeit. Außerdem ist die methodische Vielfalt beim Erlernen von Klaviermusik bereits immens. Diese Methode wäre nur eine weitere in dieser Phalanx, nicht mehr und nicht weniger, wobei die Frage der Qualität absolut offen bleiben muss.

Ensemble Musikfabrik spielt Studies on ancient Creek scales (1946) von Harry Partch (Foto: Christoph Rau)

Zweites Abendkonzert im Großen Saal der Akademie für Tonkunst


Das Konzert II  im großen Saal der Akademie für Tonkunst sollte ein denkwürdiges werden. Mit insgesamt elf Werken von sechs Komponisten (Harry Partch, Enno Poppe, Volker Staub, Georges Aperghis, Peter Ablinger und Caspar Johannes Walter) führte der Abend mit dem Ensemble Musikfabrik und der Akkordeonistin Maria Zubimendi de la Hoz durch völlig unterschiedliche Musikwelten von Komponisten mit ebenso unterschiedlichen Weltzugängen.


Da wäre zunächst Harry Partch (1901-1974), ein Außenseiter in der amerikanischen Musikszene, ein Nonkonformist, ein echtes Kind des Wilden Westens, der nach einem Aufenthalt in Europa zunächst als Tramp durch die USA zog, die wohltemperierte Stimmung ablegte und ein ganz eigenes Tonsystem, bestehend aus 43 Tönen, entwickelte, und dazu Instrumente wie die Harmonic Canons und Gubagubi entwarf: Saiteninstrumente für mikrotonale Strukturen mit eigenen Klangresonanzen.
Dreimal waren seine Studies on ancient Greek scales (1946) sowie ein Duett aus: And on the Seventh Day Petals fell in Pataluma (1963-66) zu hören. Beeindruckend die Instrumente, der folkloristische Country-Charakter, die tänzerische Leichtigkeit und die fließenden Klangwellen über die vielsaitigen Flächen der Harmonic Canons. In der Kürze der Piecen eine erfrischende Würze.

Dann von Caspar Johannes Walter (*1964) Cubic Relationship I  für Vierteltonakkordeon und Klangwürfel-Zuspiel (2018). Ein intensiver Dialog zwischen einem 6-Kanal Lautsprecher und einer instrumentalen Spezialanfertigung, das Zubimendi de la Hoz mit präziser Hingabe und perfekt kontrollierter Emotion meisterte. Seltene Klänge von seltenen Klangkörpern.

Enno Poppe (*1967) war mit Haare für Geige Solo (2013) und Fell für Schlagzeugsolo (2016) vertreten. Beide Stücke zeugten von Aufmüpfigkeit, Widerständigkeit, gepaart mit Slapstick Elementen, wütendem Gejammer und katzenhafter Hintergründigkeit. Poppe gibt seinen Werken gerne dinghafte Titel, greifbar, handfest. Und so wirkte auch seine Musik. Sein Schlagzeugsolo voller Unruhe und verzögerter Rhythmen überzeugte vor allem auch durch die hervorragende Interpretation von Dirk Rothbrust.

Volker Staub (*1961) bot zwei Kompositionen: Weiche Gesänge Nr. 26  für Stahlsaite Teil IV und Teil V (1994-97). Mit einem Violoncellobogen wurde ein quer über die Bühne gespanntes Stahlseil bearbeitet. Selten gehört, Balsam für die Seele. Von Georges Aperghis (*1945) hörte man Requiem furtif  für Geige und Claves (1998). Ein Dialog zwischen verschiedenen Hölzern und Geige, deren höchst divergierende Klangfelder immer näher zu kommen schienen. Eine Komposition für Extreme, die im positiven Sinne ihre Grenzen überschritten. Dazu zwei Musiker, Hannah Weirich, die schon das Geigensolo bravourös meisterte, und Dirk Rothbrust, von ausgesuchter Perfektion und Feinfühligkeit.

Peter Ablinger (*1959), ebenfalls ein Nonkonformist, hatte zwei seiner Werke ausgewählt, die tiefen Einblick in seine Weltsicht wie in seine Ästhetik boten.

Zunächst Voices und Piano für Klavier und CD Zuspielung (seit 1998). Drei Stücke aus einem noch in Arbeit befindlichen Lieder-Zyklus (beabsichtigt etwa 80 Einzelstücke) ohne Lieder, denn alles wird gesprochen und mit Klaviermusik „verglichen“ (Ablinger). Man hörte die Stimmen von Bertold Brecht, Guillaume Apollinaire und Hanns Eisler (letztgenannter übrigens vor dem McCarthy-Tribunal 1947/48). Der Pianist, Benjamin Kobler, führte nicht etwa einen musikalischen Dialog mit ihnen, nein, hier wurde die Sprache in Wort, Satz und Aussage, förmlich gerastert, fein und grob in seiner Einzelteile zerlegt. Kobler analysierte, experimentierte und forschte auf den Tasten. Meisterhaft, wie er die hoch komplexen Redundanzen der Sprache in ein differenziertes Klangbild umsetzte.

Elektrisierend dann In G für Cello (2009-2016). Ablinger stützt sich hier auf die Einteilung der Welt in Stromfrequenzen von 50 Hz (Europa) und 60 Hz (USA), dessen Schwebungen zwischen einem Contra-G und Contra-Gis scheinbar unhörbar aber allgegenwärtig seien.
Das Stück beginnt mit einem durch Mark und Bein gehendes Wellengeräusch, vergleichbar mit einem Radiorauschen auf der Suche nach neuen Sendern. Dann abrupter Abbruch. Das Rauschen zwischen G und Gis wird auf 50 Hertz reduziert und der Cellist, Dirk Wietheger, spielte dazu eine kaum hörbare (ppp) melodische Weise über einen Zeitraum von fast zwanzig Minuten. Dazwischen Geräusche von der Straße. Oder kamen sie aus dem Zuschauerraum? Oder waren es elektrische Ströme? Ohr und Sinne jedenfalls wurden unwillkürlich geschärft. Die  Klangwellen nahmen spürbaren körperlichen Besitz: Harmonie pur. Dann jähes Unterbrechen der wohligen Stille im gerade noch hörbaren Frequenzbereich und Wechsel zum Fortissimo-infernal des Wellensalats wie zu Anfang des Stücks: Disharmonie pur! Musik erforschte sich selbst.

Ein sehr gelungener Konzertabend, der die Verflechtungen der zeitgenössischen Musik mit Forschung und Experiment auf musikalisch hohem Niveau noch einmal ins Bewusstsein rückte. Die Anwendung der Theorie in der musikalischen Praxis. Das zahlreich erschienene Publikum war begeistert und das zu recht. Viel Beifall für alle.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen