Freitag, 13. April 2018


Code, Zwei Uraufführungen mit dem Musiktheater EvE&ADINN von Sivan Cohen Elias und der Ballettkreation Love Radioactive: Eidolons Beginning von Ramon John, Kammerspiele des Staatstheaters Darmstadt, 12.04.2018

EvE (Aki Hashimoto) Foto: Martina Pipprich

Musiktheater und Tanzperformance: Uraufführungen mit vielen Zukunftsfragen


Ein performativer Doppelabend von großer gedanklicher Brisanz: Ein Musiktheater über den Mythos der künstlichen Intelligenz und ein Tanztheater über die Vision einer menschlichen Existenz vor und nach der Apokalypse. Zwei Dystopien, zwei Antiutopien bestehend aus Musik, Gesang, Video, Text und Bewegung, die Räume öffneten und zum Nachdenken anregten. Ganz im Sinne von Ramon John, Choreograph von Love Radioactive: „Das Publikum soll eigene Assoziationen haben können, die will ich freisetzen.“


Es begann mit einem „Schöpfungsmythos über unser eigenes Schaffen“ (Sivan Cohen Elias), mit der Frage, in wieweit künstliche Intelligenz (KI) die Fähigkeit erlangen kann, ihren eigenen Quellcode zu edieren, kurz: die Menschheit zu beherrschen. Wohin treibt die Menschheit nach dem Öffnen der Büchse der Pandora?

Sivan Cohen Elias (*1976) erzählt eine der biblischen Genesis entlehnte Geschichte zweier Supercomputer, wovon der eine ADINN (Advanced Deep Intelligence Neural Network), der mächtigste Algorithmus aller Zeiten, bereits in der Lage ist, die Macht über die Menschheit zu ergreifen. Der andere EvE (Aki Hashimoto) dagegen wurde so programmiert, dass er glaubt, ein Mensch zu sein. Der dritte im Bunde ist Mr. Green (David Pichlmaier), ihr Schöpfer, dem allerdings ADINN (ebenfalls David Pichlmaier) zu entgleiten droht und EvE vorschickt, ADINNs Absichten zu entschlüsseln, die Box zu öffnen. Was will ADINN? Wer ist EvE? Was beabsichtigt Mr. Green? Ähnlich der Geschichte um Adam (ADINN) und Eva (EvE) gelingt es EvE den Code zu knacken, in den Apfel der Erkenntnis zu beißen, geht aber daran zugrunde. Wer der Sieger ist, bleibt offen. Ist es Mr. Green oder ADINN? Automatisch wird man an den Film Ex Machina (Regie: Alex Garland) erinnert, der 2015 Furore machte.

Vierzehn Instrumentalisten des Staatsorchesters Darmstadt, fünf SängerInnen und Aki Hashimoto in der Rolle der EvE führten in drei Akten durch Klangräume der ganz besonderen Art. Kopfstimmen in extremen Höhen korrespondierten mit einer ganz individuellen kompositorischen Interpretation der musique concrète instrumentale, verfremdet durch elektronisch erzeugte Akustik sowie  Samples. Schüsseln, Schalen, Küchenutensilien, Ketten, Spiralen, Styropor und Alufolie bereicherten Streicher und Keyboarder und schafften eine gefühllose, kalte bis undurchdringliche Atmosphäre. Äußerst wirkungsvoll geriet der Klang der Harfe, über deren Saiten Angel-Silk gezogen wurde. Aber auch der Percussionist (Richard Haynes), der ausschließlich mit Alltagsmaterialien agierte, stand dem in nichts nach.
Regie (Corinna Tetzel), Kostüme (Maria Pfeiffer), Licht (Nadja Klinge), Video (De-Da Productions) und Dramaturgie (Karin Dietrich) waren insgesamt gut abgestimmt und einfallsreich, wenngleich nicht immer nachvollziehbar (ob man zum Beispiel Videoeinspielungen gebraucht hätte, sei dahingestellt). Als Glücksfall erwies sich Johannes Harneit (musikalische Leitung), der die äußerst komplexe, manchmal ein wenig überfrachtete Handlung, Choreographie und Installation meisterhaft koordinierte. Eine hoch interessante Uraufführung (ein Auftragswerk des Staatstheaters Darmstadt), die durchaus noch Luft nach oben hat.


Mitglieder des Tanzensembles (Foto: Martina Pipprich)


Ramon Johns  Love Radioactive: Eidolons Beginning ist, wenn man möchte, eine geistige Fortführung von EvE&ADINN. Selbst ein herausragender Tänzer – wer erinnert sich nicht an seine Performance als Wanderer zu Tim Plegges Choreographie von Schuberts Winterreise im vergangenen Herbst –, debütierte er mit einer abendfüllenden 50-minütigen Choreographie für dreizehn Tänzerinnen und Tänzer.

Thematisch kreist das Stück um die Frage der Apokalypse und was danach übrig bleibt. Die Menschheit hat sich selbst vernichtet. Ein kleiner Rest von ihnen findet nichts mehr vor außer sich selbst. Was wird aus ihnen? Welche individuellen und kollektiven Wege werden sie gehen?

Gemeinsam mit Linnan Zhang (Bühne und Kostüme) und Lisanne Wiegand (Dramaturgie) und einer von John selbst zusammengestellten Musik (unter anderem von Paul Jebanasam Eidolons Beginning und von Andrea Vacca Love Radioactive #2, beide Namensgeber der Performance) gelang ein äußerst abwechslungsreiches, explosives, rauschendes und tief bewegendes Tanztheater mit einer höchst motivierten und bestens vorbereiteten Truppe. Eine stimmige Musikauswahl, eruptiv zu Anfang, dann wieder von Radiowellen unterbrochen, mal Techno-Beats und Tangoschritt oder beängstigend atemlos, wie aus Atemmasken kommend, wurde in vielfältige, gleitende, weitestgehend harmonische Bewegungen umgesetzt. Alles fein abgestimmt und auf die tänzerischen Qualitäten der Tanzkompanie zugeschnitten. Herausragend dabei die Pas de Deux und die Gruppentänze. Großes Feeling und tiefe Hingabe bei allen Akteuren.
Elisabet Gareis, Tatsuki Takada (Foto: M. Pipprich)

Was aber bleibt? Die göttliche, unnahbare weiße weibliche Gestalt verschwindet, die Fesseln, die binden und zerstören, werden abgeworfen, die Kampfuniformen abgelegt. Der Mensch findet wieder zu sich, nein, zwei Menschen finden wieder zu sich. Ein inniges Pas de Deux mit Elisabet Gareis und Tatsuki Takada beendet, von wallendem musikalischem Rauschen begleitet, das katastrophische Geschehen. Die Liebe ist es, die den Menschen wieder zum Menschen macht.

Große Atmosphäre, eine Menge Assoziationen und viel Nachdenkliches blieben zurück. Was will man eigentlich mehr? Ramons Love Radioactive: Eidolons Beginning wird sicher keine Eintagsfliege bleiben.

Nächste Vorstellungen: 15. und 29. April, 05. und 06. Mai



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