Code,
Zwei Uraufführungen mit dem Musiktheater EvE&ADINN von Sivan Cohen Elias
und der Ballettkreation Love Radioactive: Eidolons Beginning
von Ramon John, Kammerspiele des Staatstheaters Darmstadt, 12.04.2018
EvE (Aki Hashimoto) Foto: Martina Pipprich |
Musiktheater und Tanzperformance: Uraufführungen mit vielen Zukunftsfragen
Ein performativer Doppelabend von großer gedanklicher Brisanz: Ein Musiktheater über den Mythos der künstlichen Intelligenz und ein Tanztheater über die Vision einer menschlichen Existenz vor und nach der Apokalypse. Zwei Dystopien, zwei Antiutopien bestehend aus Musik, Gesang, Video, Text und Bewegung, die Räume öffneten und zum Nachdenken anregten. Ganz im Sinne von Ramon John, Choreograph von Love Radioactive: „Das Publikum soll eigene Assoziationen haben können, die will ich freisetzen.“
Es begann mit einem „Schöpfungsmythos über unser
eigenes Schaffen“ (Sivan Cohen Elias), mit der Frage, in wieweit künstliche
Intelligenz (KI) die Fähigkeit erlangen kann, ihren eigenen Quellcode zu
edieren, kurz: die Menschheit zu beherrschen. Wohin treibt die Menschheit nach
dem Öffnen der Büchse der Pandora?
Sivan
Cohen Elias (*1976) erzählt eine der biblischen Genesis
entlehnte Geschichte zweier Supercomputer, wovon der eine ADINN (Advanced Deep
Intelligence Neural Network), der mächtigste Algorithmus aller Zeiten, bereits
in der Lage ist, die Macht über die Menschheit zu ergreifen. Der andere EvE (Aki Hashimoto) dagegen wurde so
programmiert, dass er glaubt, ein Mensch zu sein. Der dritte im Bunde ist Mr. Green
(David Pichlmaier), ihr Schöpfer, dem
allerdings ADINN (ebenfalls David Pichlmaier) zu entgleiten droht und EvE
vorschickt, ADINNs Absichten zu entschlüsseln, die Box zu öffnen. Was will
ADINN? Wer ist EvE? Was beabsichtigt Mr. Green? Ähnlich der Geschichte um Adam
(ADINN) und Eva (EvE) gelingt es EvE den Code zu knacken, in den Apfel der
Erkenntnis zu beißen, geht aber daran zugrunde. Wer der Sieger ist, bleibt
offen. Ist es Mr. Green oder ADINN? Automatisch wird man an den Film Ex Machina (Regie: Alex Garland) erinnert, der 2015 Furore machte.
Vierzehn Instrumentalisten des Staatsorchesters Darmstadt, fünf SängerInnen und Aki
Hashimoto in der Rolle der EvE führten in drei Akten durch Klangräume der ganz
besonderen Art. Kopfstimmen in extremen Höhen korrespondierten mit einer ganz
individuellen kompositorischen Interpretation der musique concrète
instrumentale, verfremdet durch elektronisch erzeugte Akustik sowie Samples. Schüsseln, Schalen, Küchenutensilien,
Ketten, Spiralen, Styropor und Alufolie bereicherten Streicher und Keyboarder
und schafften eine gefühllose, kalte bis undurchdringliche Atmosphäre. Äußerst
wirkungsvoll geriet der Klang der Harfe, über deren Saiten Angel-Silk gezogen
wurde. Aber auch der Percussionist (Richard
Haynes), der ausschließlich mit Alltagsmaterialien agierte, stand dem in
nichts nach.
Regie (Corinna
Tetzel), Kostüme (Maria Pfeiffer),
Licht (Nadja Klinge), Video (De-Da Productions) und Dramaturgie (Karin Dietrich) waren insgesamt gut abgestimmt
und einfallsreich, wenngleich nicht immer nachvollziehbar (ob man zum Beispiel
Videoeinspielungen gebraucht hätte, sei dahingestellt). Als Glücksfall erwies
sich Johannes Harneit (musikalische
Leitung), der die äußerst komplexe, manchmal ein wenig überfrachtete Handlung,
Choreographie und Installation meisterhaft koordinierte. Eine hoch interessante
Uraufführung (ein Auftragswerk des Staatstheaters Darmstadt), die durchaus noch Luft nach oben hat.
Mitglieder des Tanzensembles (Foto: Martina Pipprich) |
Ramon
Johns Love Radioactive: Eidolons Beginning
ist, wenn man möchte, eine geistige Fortführung von EvE&ADINN. Selbst ein herausragender
Tänzer – wer erinnert sich nicht an seine Performance als Wanderer zu Tim
Plegges Choreographie von Schuberts Winterreise
im vergangenen Herbst –, debütierte er mit einer abendfüllenden 50-minütigen Choreographie
für dreizehn Tänzerinnen und Tänzer.
Thematisch kreist das Stück um die Frage der
Apokalypse und was danach übrig bleibt. Die Menschheit hat sich selbst
vernichtet. Ein kleiner Rest von ihnen findet nichts mehr vor außer sich
selbst. Was wird aus ihnen? Welche individuellen und kollektiven Wege werden
sie gehen?
Gemeinsam mit Linnan
Zhang (Bühne und Kostüme) und Lisanne
Wiegand (Dramaturgie) und einer von John selbst zusammengestellten Musik
(unter anderem von Paul Jebanasam Eidolons
Beginning und von Andrea Vacca Love
Radioactive #2, beide Namensgeber der Performance) gelang ein äußerst abwechslungsreiches,
explosives, rauschendes und tief bewegendes Tanztheater mit einer höchst motivierten
und bestens vorbereiteten Truppe. Eine stimmige Musikauswahl, eruptiv zu Anfang,
dann wieder von Radiowellen unterbrochen, mal Techno-Beats und Tangoschritt
oder beängstigend atemlos, wie aus Atemmasken kommend, wurde in vielfältige,
gleitende, weitestgehend harmonische Bewegungen umgesetzt. Alles fein abgestimmt
und auf die tänzerischen Qualitäten der Tanzkompanie zugeschnitten.
Herausragend dabei die Pas de Deux und die Gruppentänze. Großes Feeling und
tiefe Hingabe bei allen Akteuren.
Elisabet Gareis, Tatsuki Takada (Foto: M. Pipprich) |
Was aber bleibt? Die göttliche, unnahbare weiße
weibliche Gestalt verschwindet, die Fesseln, die binden und zerstören, werden
abgeworfen, die Kampfuniformen abgelegt. Der Mensch findet wieder zu sich, nein,
zwei Menschen finden wieder zu sich. Ein inniges Pas de Deux mit Elisabet Gareis und Tatsuki Takada beendet, von wallendem musikalischem
Rauschen begleitet, das katastrophische Geschehen. Die Liebe ist es, die den
Menschen wieder zum Menschen macht.
Große Atmosphäre, eine Menge Assoziationen und viel
Nachdenkliches blieben zurück. Was will man eigentlich mehr? Ramons Love Radioactive: Eidolons Beginning wird sicher keine Eintagsfliege bleiben.
Nächste Vorstellungen: 15. und 29. April, 05. und 06. Mai
Nächste Vorstellungen: 15. und 29. April, 05. und 06. Mai
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